Viruspartikel sind winzig – 20 bis 300 Nanometer im Durchmesser und damit etwa 1000-mal kleiner als eine menschliche Zelle. Sie bestehen aus nicht viel mehr als ihrem Erbmaterial und einer schützenden Proteinhülle. Sogar einen eigenen Stoffwechsel sparen sie sich und nutzen stattdessen den ihres Wirtes. Nachdem sie in eine Wirtszelle eingedrungen sind, programmieren sie diese um. Die Zelle liest das virale Erbgut ab, vermehrt es und produziert Virusproteine. So stellt die Wirtszelle immer mehr Viruspartikel her, bis sie stirbt und dadurch die Viren freisetzt.
Neue Viren, neue Herausforderungen
In den Wirt rein – und wieder raus
Viren können einen neuen Wirt wie den Menschen jedoch nicht einfach stürmen. Sie brauchen einen Schlüssel, um in dessen Zellen einzudringen. „Dafür benutzen Viren Proteine auf unserer Zelloberfläche. Nur wenn diese zu den Proteinen auf der Virusoberfläche passen, können sie uns infizieren“, sagt Prof. Luka Cicin-Sain, Leiter der Forschungsgruppe „Immunalterung und Chronische Infektionen“ am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI). Allerdings haben nicht alle Wirtszellen das richtige Schloss an ihrer Oberfläche: Viren können sich nur in einem Gewebe vermehren, dessen Zellen die zum Virus passenden Rezeptoren produzieren. Daraus entsteht der Zug von Viren in einzelne Organe – Grippeviren vermehren sich in der Lunge und den Bronchien, Hepatitis-Viren leben in der Leber und das HI-Virus zieht es in Zellen des Immunsystems. Bei SARS-CoV-2 übernimmt ein Oberflächenprotein, das die Wissenschaftler Spike-Protein nennen, die Rolle des Schlüssels. Der entscheidende Schritt des Virus für den Wirtswechsel zum Menschen war laut Cicin-Sain eine Mutation des Spike-Proteins, durch die SARS-CoV-2 nun an den ACE2-Rezeptor auf menschlichen Zellen binden kann.
Der Ort, an dem ein Virus unterschlüpft, ist auch für die weitere Verbreitung entscheidend. „In den Körper hineinzukommen und sich dort zu vermehren, ist das Eine – aber um sich weiter zu verbreiten, müssen Viren aus dem Wirt auch wieder herauskommen“, sagt Cicin-Sain. Viren, die sich in den Atemwegen oder dem Verdauungstrakt vermehren, haben es leichter als solche, die in inneren Organen oder dem Blutkreislauf vorkommen.
„Wenn ein neues, unbekanntes Virus auftritt, ist es naheliegend zu überprüfen, ob es zu einer der Virusfamilien gehört, aus denen in der Vergangenheit auch schon neue Viren hervorgegangen sind. Dies sind in der Regel Viren, deren Erbgut aus RNA besteht“, sagt Luka Cicin-Sain. Denn abhängig vom Aufbau ihres Erbguts bringen Viren unterschiedlich gute Voraussetzungen für einen Wirtswechsel mit. RNA-Viren verändern sich genetisch schneller als Viren mit einem Erbgut aus DNA. Dies liegt daran, dass das Protein, das die RNA vervielfältigt, häufiger kleine Fehler einbaut. Durch die Mutationen im Erbgut entstehen verschiedene Virusvarianten, die sich geringfügig unterscheiden. So passen sich RNA-Viren schneller an einen Wirt an als DNA-Viren.
Per Moskito-Taxi in den Wirt
Einige Viren nutzen Helfer, um von Mensch zu Mensch zu gelangen. Zum Beispiel können blutsaugende Tiere wie Stechmücken oder Zecken bei ihrer Mahlzeit Viren aufnehmen. Diese vermehren sich in den Blutsaugern und werden bei einem weiteren Stich wieder auf einen menschlichen Wirt übertragen. So waren Moskitos an einer Epidemie beteiligt, bei der ein Virus gar nicht neu auf Menschen überspringen musste: die Zika-Epidemie. Dieses Virus ist bereits seit den 1950er Jahren bekannt. Zu massenhaften Erkrankungen kam es aber erst, als das Zika-Virus 2015 nach Mittel- und Südamerika eingeschleppt wurde und per Moskito-Taxi einen neuen Kontinent erobern konnte. „Voraussetzung für die Übertragung des Zika-Virus ist, dass es sich sowohl in Menschen als auch in Stechmücken vermehren kann – zwei völlig unterschiedliche Spezies. Das ist ein enorm komplexes System, wo der Übergang zwischen zwei Spezies immer wieder stattfinden muss“, sagt Luka Cicin-Sain. Ein komplett neu auftretendes Virus, das sich mithilfe von Moskitos in einer anderen Tierart verbreitet, könnte stattdessen auch auf Menschen überspringen. Dies wurde beispielweise beim West-Nil-Virus beobachtet. Das von Stechmücken übertragene Virus zirkuliert normalerweise zwischen Mücken und Vögeln, kann aber auch Menschen und andere Säugetiere infizieren.
Es ist ein typisches Merkmal von Viren, sich auf bestimmte Wirtsspezies zu konzentrieren – jedoch ist dies je nach Virenfamilie unterschiedlich strikt. „Wir kennen Generalisten und Spezialisten unter den Viren. Die Spezialisten sind auf einen einzigen Wirt festgelegt, generalistische Viren können ihren Wirt dagegen leichter wechseln“, sagt Luka Cicin-Sain. Mit seiner Arbeitsgruppe forscht er am Zytomegalievirus (CMV), ein hochgradig auf den Menschen spezialisiertes Virus. CMV, das zur Familie der Herpesviren gehört, hat seinen Lebensstil komplett an den Menschen angepasst. Solch hochspezialisierte Viren tragen in ihrem Erbgut den Bauplan für viele Proteine, die mit dem menschlichen Immunsystem wechselwirken. Mithilfe dieser Proteine können sie die Immunabwehr ausschalten und etwa verhindern, dass infizierte Zellen zerstört werden. Dadurch kann CMV unbemerkt vom Immunsystem viele Jahrzehnte in menschlichen Zellen überdauern. Bei bis zu 90 Prozent der Bevölkerung schlummert dieses Virus im Körper, ohne Symptome auszulösen. Das Immunsystem hält den Erreger dabei so weit in Schach, dass keine aktive Infektion ausbricht. „So ein Wechselspiel entsteht aber nicht aus dem Nichts, sondern ist das Ergebnis einer sehr langen Anpassung an einen Wirt. Generalistische und neue Viren können sich hingegen nicht dauerhaft vor dem Immunsystem verstecken“, sagt Luka Cicin-Sain. Somit sei es einfacher, einen Impfstoff gegen solche Viren zu entwickeln.
Kein Patentrezept für Impfungen
Was können wir also künftig tun, um neue Viren, die den Sprung zum Menschen schon geschafft haben, zu stoppen? Ein wichtiger Baustein ist die zügige Entwicklung eines Impfstoffs. Eine Impfung trainiert das Immunsystem, mit einem Erreger fertig zu werden, ohne eine Krankheit auszulösen. Es wird sozusagen eine Infektion nachgeahmt. Im Fall einer späteren Begegnung mit dem Erreger kann das Immunsystem die Erfahrung schnell abrufen und eine Infektion verhindern. Während gegen bakterielle Infektionen Breitband-Antibiotika zur Verfügung stehen und an dem Pendant gegen Viren – also breitwirksamen antiviralen Medikamenten – geforscht wird, gibt es so etwas wie eine Breitbandimpfung nicht. „Unser Immunsystem ist ein Meister darin, hochpräzise Immunreaktionen auszulösen, die sich spezifisch gegen einen Erreger richten. Daher können bekannte Impfstoffe auch nicht so einfach umfunktioniert werden“, sagt Prof. Carlos A. Guzmán, Leiter der Abteilung „Vakzinologie und angewandte Mikrobiologie“ am HZI.
„Zum Glück mussten wir bei SARS-CoV-2 nicht bei null anfangen. Es wurde ja schon intensiv an Impfungen gegen SARS- und MERS-Coronaviren geforscht“, sagt Guzmán. Daher wussten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bereits, dass das Spike-Protein ein gutes Ziel für die Impfstoffentwicklung ist. Nutzt eine Impfung dieses Protein als Antigen, regt sie das Immunsystem dazu an, Antikörper dagegen zu bilden. Beim Kontakt mit dem Virus machen die Antikörper das Spike-Protein – und damit den Schlüssel der Viren – unzugänglich und versperren ihm so den Weg in die Zellen.
Nicht jedes in Zukunft neu auftretende Virus wird jedoch so nah mit bereits bekannten Erregern verwandt sein wie im aktuellen Fall von SARS-CoV-2. Da es zudem unmöglich ist, vorherzusagen, welches Virus als nächstes auf den Menschen überspringt, setzt die Impfstoffforschung auf eine technische Entwicklung: „Die ‚reverse Vakzinologie‘ hat den Forschungsprozess buchstäblich auf den Kopf gestellt“, erzählt Carlos Guzmán. Traditionell werden Krankheitserreger in langwieriger Grundlagenforschung charakterisiert. So wird beispielsweise untersucht, welche Mechanismen ein Erreger nutzt, um eine Krankheit auszulösen oder welche seiner Strukturen besonders gut vom Immunsystem erkannt werden. Auf diesem Wissen baut dann die Impfstoffentwicklung auf. Die reverse Vakzinologie basiert hingegen auf dem genetischen Code eines Erregers, der sich mit moderner Sequenziertechnik sehr schnell bestimmen lässt. Bei SARS-CoV-2 lag der genetische Code bereits Mitte Januar 2020 entschlüsselt in einer Datenbank vor – also zu einem Zeitpunkt, als erst einige Dutzend Infektionen mit dem Virus bekannt waren. „Mit diesem Datensatz konnte die Impfstoffforschung sofort beginnen, ohne das Virus vorher im Labor anzüchten oder anderweitig untersuchen zu müssen“, sagt Guzmán. In solchen Fällen helfen computergestützte Ansätze bei der Auswahl des besten Antigens für einen Impfstoff.
Anschließend müssen Impfstoffe einen langen Entwicklungs- und Optimierungsprozess durchlaufen. „Normalerweise dauert die Entwicklung und Zulassung eines Impfstoffs etwa zehn Jahre“, sagt Carlos Guzmán.
Schließlich wird die Impfung gegen SARS-CoV-2 einem großen Teil der Bevölkerung verabreicht. Selbst seltene schwere Nebenwirkungen beträfen gleich viele Personen.
Nach der Epidemie ist vor der Epidemie
Schon in der Steinzeit waren Viren unsere Begleiter – und sie werden es auch in Zukunft bleiben. „Das Reservoir von Viren im Tierreich ist schier unendlich. Früher oder später ist ein Überspringen neuer Viren auf Menschen so sicher wie das Amen in der Kirche“, sagt Luka Cicin-Sain. Die Herausforderung wird sein, die nächste Erkrankungswelle durch ein neues Virus unter Kontrolle zu bringen, bevor sie sich zu einer großen Epidemie entwickelt.
Autorin: Charlotte Wermser
Veröffentlichung: März 2021